Es fängt harmlos an. Ein paar Monate work and travel in Australien. Abi in der Tasche, keine Ahnung was man mit dem Leben anfangen soll, also erstmal weg. Das erste Mal auf eigene Faust ein Land erleben. Alleine, ohne große Planung, ohne wirkliche Ahnung von Land und Leuten. Alles was du weißt ist das Australien ein großes Land mit seltsamen Tieren und gutem Wetter ist. Australien macht es dir leicht. Es ist die Einstiegsdroge. Es ist schön, weit weg von zu Hause, von allem was dich bisher geprägt hat. Es ist auf backpacker eingestellt, als fruitpicker einen Job zu kriegen ist nicht schwer, die Menschen sind freundlich und die Landschaft atemberaubend schön. Australien verfügt über eine geniale Backpacker-Infrarstruktur: Komfortabel, sicher und trotzdem bleibt Raum für Abenteuer. Wenn du nicht arbeitest, was du selten tust weil das irgendwie nicht das ist wozu du hergekommen bist und dein Konto ohnehin beruhigend voll ist, erkundest du den Kontinent.
Danach ist alles anders: Du willst nicht mehr nur Urlaub machen. Du willst reisen. Möglichst lange weg in den Semesterferien. Backpacken im teuren Schweden und Norwegen, später einen Monat Nordamerika. New York, Philadelphia, Washington D.C., hiken in den Appalachen in Maryland und West Virginia, Niagara Falls, Toronto, Montréal, Boston, New York. Zwischen den großen Reisen bergsteigen und Skitouren in den Alpen, mal eine Woche Nizza, mal nach Bayern, einfach so. Im Sommer Israel, vor Weihnachten nach Ägypten. Deine to do Liste ist voll von Orten die du sehen willst. Nie hälst du es lange an einem aus, der nächste könnte noch besser, noch schöner, sein, du könntest etwas verpassen wenn du zu lange verweilst. Alles was daheim schwer ist, wird unterwegs leicht. Leute kennen lernen zum Beispiel. Du siehst jemand alleine mit einem Lonely Planet in der Hand und sprichst ihn an. Du wunderst dich wie schnell die Zeit vergeht, du siehst an einem Tag in der Ferne mehr als in einer Woche zu Hause, du bist immer auf den Beinen, on the run, und am Abend hast du so viel gesehen, dass du mit müden Augen auf das Display deiner Digitalkamera schauen musst um in deinem Kalender in kurzen Stichworten aufzuschreiben, was du gesehen hast und wo du überall warst.
Du triffst jeden Tag Menschen, deren Lebensentwürfe so komplett verschieden sind von allem, was du kennst. Menschen, die nicht mehr zurückwollen, deren Lebensinhalt die Flucht geworden ist. Sie alle sehen so glücklich aus. Deine Wertevorstellungen geraten ins Wanken. Du hast eine der besten Zeiten deines Lebens. Du bist angefixt. Ist ein Lonely Planet und eine Mastercard alles was du brauchst um glücklich zu sein ?
Und immer wenn du zu Hause bist stellst du mit Erstaunen fest, dass sich hier nichts verändert hat. Die Dinge, über die deine Freunde sprechen, sind dieselben wie vor drei Monaten. Die Probleme die du hast sind auch die selben. Das kann es nicht sein. Du willst mehr vom Leben. Eigentlich ist dir nur noch langweilig und du planst im Geist bereits die nächste Reise bevor das Zeug von der letzten Reise überhaupt fertig ausgepackt und gewaschen ist. Physisch sitzt du in der Uni, mental bist du irgendwo in den Wäldern der Rockies.
Es lässt dich nicht mehr los. Das Studium zieht sich ewig hin, ist trocken, langweilig. Du willst leben, nicht funktionieren. Du willst reisen für ein Jahr oder sogar zwei. Irgendwann ist es fast egal, in welchem Land du gerade bist. Wichtig ist nur, dass dein Kopf frei ist, du nicht mehr an daheim denkst und wenn doch, dann nur mit einem Kopfschütteln. Dir wird immer klarer, dass bei uns etwas schief läuft. Aus der Ferne siehst du Deutschland anders: Es ist ein kaltes Land mit gestressten Menschen, die einen Tanz ums goldene Kalb aufführen. Die Angst regiert. Angst, seinen Job zu verlieren, Angst, keinen Job zu bekommen, Angst, alleine zu sein, Angst, zu wenig zu tun. Du bist in Ländern, in denen Menschen bettelarm sind und noch nie einen Computer gesehen haben. Sie alle sehen glücklicher aus als die Geschäftsmänner, Politiker und Praktikumsfetischisten. Du weißt: Das ist naiv. Aber plötzlich verstehst du nicht mehr, was an Naivität falsch sein soll. Du erlebst Momente absoluten Glücks. Momente, in denen nichts anderes zählt als die Gegenwart. Momente, die erfüllt sind von der Schönheit der Natur. Sie sind das Realste, das du je in deinem Leben verspürt hast. Sie sind stärker als Argumente.
Und wenn du wieder zurückkommst, hast du das Verständnis für dein Land komplett verloren. Dafür immer nur das Gleiche mit den gleichen Leuten zu tun. Für die komplizierten, langwierigen politischen Prozesse, die Lügen der Staatsmänner, die Arroganz der Reichen, für die Notwendigkeiten von Studiengebühren, für Hartz IV, für die Respektlosigkeit der Menschen und für das schlechte Wetter.
Und irgendwann ist es zu spät. Deine Frustrationsschwelle ist auf knapp über Null gesunken. Eine kleine persönliche Niederlage im Job oder an der Uni, eine Abfuhr von einer Frau die dir gefällt, lässt dich wieder an die Droge denken. Einfach ein Ticket kaufen, packen und sie können dich alle mal kreuzweise. Du bekommst keinen Fuß mehr auf den Boden. Immer wieder fährst du weg. Deine Freunde haben längst alle einen Job, studieren erfolgreich und leben in festen Beziehungen. Was sie Freiheit nennen, nennst du Einsamkeit. Du beginnst zu hassen. Aber nicht mehr, weil du ein besseres Leben kennst, sondern nur noch, weil sie etwas haben, das du nicht hast. Alles was du besitzt, sind Erinnerungen und die Stempel in deinem Pass. Sie sind deine Orden. Du wirst unglücklich. Die Gefahr, dass das Reisen nicht mehr Teil sondern Sinn des Lebens ist. Das definierende Moment deiner unsicheren Identität, das einzige das du wirklich gut beherrschst. Die Stütze für dein Selbstwertgefühl. Eine unendliche Suche, bei der du nicht mal sicher bist, wonach du eigentlich suchst, nur, dass du es noch nicht gefunden hast ist dir klar. Und so rennst du immer weiter, du bist auf der Flucht ins Nirgendwo. Und am Ende denkst du, es muss sich etwas ändern: Du willst reisen, aber du willst nicht fliehen...
Der beste/bewegendste Text, den ich seit langem gelesen habe. Mehr kann ich dazu auch gar nicht sagen. Liebe Grüße
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